Samstag, 23. Juli
Nach einer milden Nacht ist es heute bewölkt. Prima. Ich habe einen vierstündigen Aufstieg über 1.000 Höhenmeter zum Col d’Eyne vor mir. Da genieße ich es, mal wieder ohne Kopfbedeckung laufen zu können und nur von der Anstrengung zu schwitzen. Das Vallée d’Eyne erstreckt sich weit nach Südosten hin, begleitet von einem Bach, der sich über viele kleine Felsstufen und Wasserfälle hinweg der Schwerkraft ergibt. Die erste Stunde laufe ich durch Kiefernwald. Als der sich lichtet, kommt der Wind vom Col. Auch die Sonne schleicht sich jetzt ab und an durch die auflockernde Bewölkung.
Früher als gedacht bin ich auf dem Col und mache – na was wohl – eine lange Pause. Es ist mal wieder Samstag. Der Pass ist unglaublich gut besucht. Ob aus dem Tal von Eyne oder von der spanischen Seite, über den Grat vom Pic de Nuria oder den vom Pic d’Eyne, der Richtung, der ich nun folge: Überall kommen oder gehen Leute.
Es folgen etliche Kilometer auf oder am Grat, links Frankreich, rechts Spanien. Den ersten Gipfel, den Pic d’Eyne lasse ich links liegen. Den zweiten, Pic de Noufonts (2.861m), nehme ich unter die Füße. Ebenso den Pic de Nou Creus (2.799m). Am Col de Nou Creus stehen 9 kleine Kreuze. Warum? Keine Ahnung. Und die spanische Jugendgruppe, die diese Kreuze umlagert, interessiert es nicht.
Kaum habe ich den letzten Pass, der vom nächstgelegenen spanischen Parkplatz aus erreichbar ist, hinter mir, bin ich wieder alleine.
Pic de la Vaca (2.821m). 14:30 Uhr. Noch zwei Stunden bis zum Refugi d’Ull de Ter. Das Wetter ist stabil. Ein prima Zeitpunkt, um eine letzte längere Pause für heute zu machen.
Ganz allein bin ich wohl doch nicht. Als ich meine Pause gerade beende, kommen zwei Katalanen vorbei, die einen Wochenendausflug ins Gebirge machen, oder eigentlich schon hinter sich haben. Dabei ist es erst Samstag! Aber die beiden wollen heute wieder nach Hause, nach Barcelona, nachdem sie gestern auf dem Pic des Bastiments übernachtet haben. Sie haben nun sehr unterschiedliche Arten, den Wochenendtrip zu verarbeiten. Während der eine morgen Klettern gehen will, braucht der andere einen Strandtag, wie er sagt.
Wenig später sehe ich ein großes Rudel Gämsen und erstmals lassen sie mich auch so nah heran, dass ich ein paar schöne Fotos schießen kann.
Kurz draufbin ich am Coll de la Marrana (2535m), dem letzten Pass für heute. Danach kommt nur noch ein Abstieg in ein Skigebiet und zum Refugi d’Ull de Ter. Heute gönne ich mir mal wieder eine Hütte.
Sonntag, 24. Juli
Dass es keine so gute Idee ist, ausgerechnet an einem Wochenende auf einer spanischen – besser katalanischen (Achtung Nationalstolz!) – Hütte zu übernachten, hätte ich mir eigentlich denken können. Aber nach der eher spartanischen sanitären Ausstattung auf der Gemeindewiese von Eyne war mir einfach nach einer Dusche. Die Hütte war gerammelt voll. Und trotzdem war das gefühlt der einsamste Tag meiner Tour. Denn die Katalanen treten offenbar in großen Gruppen auf, die für einen Außenstehenden wie mich eine geschlossene Gesellschaft sind. Es war laut, es war lärmend, alle haben sich gut unterhalten. Alle bis auf einen. Ich war nicht beteiligt und ich konnte mich mangels Sprachkenntnissen auch nicht beteiligen. Ori, den ich gestern vor der Hütte wieder traf, nachdem wir uns vorgestern morgen auf dem Pic Carlit begegnet waren, hat da wohl die bessere Entscheidung getroffen. Er ist gestern abend noch weitergegangen und hat sich ein Zeltplatz gesucht. Er hatte aber auch die Nacht davor Übernachtung und eine Dusche im Gîte.
Dass es Wochenende ist, merke ich auch heute morgen. Alleine auf dem viertelstündigen Weg von der Hütte zum Parkplatz kamen mir bereits mehr als ein Dutzend Leute entgegen.
Apropos Parkplatz: Ich laufe durch das Skigebiet des Vallter. Der (oder die?) Ter ist ein Fluss, der hier oben entspringt und durch ganz Katalonien verläuft. Jetzt wird mir auch die Bedeutung des Hüttennamens klar. Refugi d’Ull de Ter = die Hütte an der Quelle des Ter. Auch Radsportfreunden ist das Vallter vermutlich ein Begriff: Schriften auf der Straße weisen auf die Vuelta, die große Spanienrundfahrt hin.
An der Portella de Morens begrüßt mich eine Landschaft von, im Vergleich zu den Eindrücken der letzten Tage, unglaublicher Weite. Stundenlang laufe ich mit nur wenig Höhenunterschied durch diese einsame, weite Landschaft, in der ich kaum einen Menschen treffe. Ehrlich gesagt gefällt mir das wesentlich besser als diese supersteilen Schuttauf- und abstiege. Woran ich mich allerdings immer noch nicht gewöhnt habe sind zirpende Grillen im Kiefernwald oberhalb 2.000 m Höhe, die mir seit Tagen immer wieder begegnen – zumindest akustisch.
Aber der Kiefernwald und die Grillen sind heute nur eine kurze Episode, dann folgen schon wieder neue Weiten.
Am Pla Guilhem, wieder so einer weiten Hochfläche, muss ich mich für einen Weiterweg entscheiden. Die HRP steigt hier ab zum Refuge de Mariailles und geht von dort aus am Folgetag auf den Pic de Canigou, den letzten richtig hohen Berg Richtung Osten. Es gibt auch eine Schlechtwettervariante, die den Berg nordwärts auf dem GR10 umgeht. Schlechtes Wetter ist allerdings nicht in Sicht. Bei der Planung zu Hause fand ich den Weiterweg über den Pic de Sept Homme und den folgenden Grenzkamm eigentlich die logische Linie. Das Problem dabei: das würde nochmal etwa sechs Stunden dauern, was für heute einfach zu viel ist. Abgesehen davon müsste ich jetzt nochmal Wasser auffüllen, wozu ich erst mal wieder absteigen müsste, hier oben gibt es keins! Außerdem ziehen gerade Wolken von Spanien hoch an den Grat. Ich nehme das alles mal als Zeichen, dass das nicht die Variante ist, die ich präferieren sollte.
Eine Französin, die mir vorhin entgegen kam (Franzosen gehen die HRP immer von Ost nach West), empfahl mir die Crête Barbèt, einen Grat, der östlich vom Canigou verläuft, schöne Sichten auf den Berg offerieren soll und dabei den doch sehr touristischen Gipfel selbst vermeidet. Klingt, als wäre das meine bevorzugte Variante!
Also: Abstieg zum Refuge de Mariailles. An der Hütte angekommen, gerate ich wieder in eine Gruppe von 10+ lautstarken Spaniern. Ich werde heute auf jeden Fall wieder im Zelt schlafen!
Nachdem ich bei einer langen Pause meine Kräfte wieder gesammelt habe, laufe ich nochmal los. Um 7 Uhr abends sehe ich bei der Cabane Arago einen Mann, etwa in meinem Alter, der gerade sein Zelt aufbaut. Ich gehe hin und beginne eine Unterhaltung. Ein Engländer, der einen mürrischen Eindruck macht. Hütten hält er für die Antithese all dessen, was wir um uns herum sehen und überhaupt gibt er mir zu verstehen, dass er mit Menschen, insbesondere mit vielen, offenbar nichts am Hut hat. Ich suche mir einem Zeltplat weit genug weg, sodass er sich nicht gestört fühlen kann. Die Nacht kann kommen!
Montag, 25. Juli
Der Weg hoch zum Canigou hat geradezu alpine Qualitäten: angenehme Steigung und selbst durch Blockfelder ist der Weg regelrecht trassiert. Und als Bonus gibt es in 2.400 m Höhe noch eine gefasste Quelle!
Dass der Canigou ein beliebter Berg ist, merkt man auch daran, dass mir etliche Leute entgegenkommen und viele andere bereits folgen. Und das an einem Montag.
Früh zieht heute eine hohe Bewölkung auf und nach Osten ist es sehr dunstig. Das Mittelmeer, dass man vom Canigou bei gutem Wetter sehen können soll, kann man heute noch nicht einmal erahnen.
Während ich auf dem Crête Barbet tatsächlich alleine bin, tummeln sich gegenüber auf dem Canigou jede Menge Leute. Mich umschwirren lediglich ganz viele Schwalben.
Kurz drauf treffe ich den Engländer von gestern abend wieder. Und wo? Auf der Terrasse seiner Antithese, dem Refuge des Cortalets, wo er genussvoll einen Kaffee nach dem anderen trinkt und ein Sandwich isst. Peter, so heißt er, macht heute einen wesentlich umgänglicheren Eindruck. Wir unterhalten uns lange. Peter war 30 Jahre lang Lehrer. Durch lange Schulferien und zusätzliche Sabbaticals hat er so ziemlich alles an langen Tracks gemacht, was man nur machen kann. Pacific Crest, Continental Divide, John Muir, Neuseeland Südinsel, LEJOG, LandsEnd-CapeWrath… Er hat in Schottland nicht nur alle Gipfel über 3.000 ft (Munros) bestiegen, sondern auch alle Corbets (> 2.500 ft) und Grahams (>2.000 ft). Alleine die HRP geht er jetzt zum 16. Mal und findet dabei immer wieder neue Varianten. Viele Touren ist er zusammen mit seiner Frau gegangen, von der er liebevoll spricht und die sich gerade von einer Covid-Erkrankung erholt. Je länger wir uns unterhalten, desto mehr erwärme ich mich für ihn, insbesondere, als er dann noch sagt, dass er keinen einzigen Tag in seinem Leben bereut. Ich mag positiv denkende Menschen!
Pleased to have met you, Peter!
Eine halbe Stunde, nachdem ich wieder losgelaufen bin, muss ich über ein Flugzeugwrack steigen! Das liegt hier offenbar schon seit Jahren, ist aber dennoch ziemlich skurril.
Eineinhalb Stunden später erwartet mich mit dem „Balcon de Canigou“ ein wunderschöner Höhenweg. Nur, dass dieser offenbar auch von vielen Kühen und Pferden genutzt wird, macht ihn bei der intensiven Sonneneinstrahlung zu einem etwas speziellen olfaktorischen Erlebnis. Erst aussichtsreich auf der Sonnenseite, dann im schattigen Bergwald verläuft der Weg nahezu höhenlinienparallel.
An einer unbewirtschafteten Hütte mit Sitzplätzen und Wasserstelle mache ich nochmal eine längere Pause. Von hier sind es nur noch anderthalb Stunden bis zum Refuge Batère, meinem heutigen Tagesziel. Kaum bin ich wieder aufgebrochen, donnert es. Scheint aber weit weg zu sein. Es hört auch nach 20 Minuten wieder auf. Aber nur, um nach weiteren 20 Minuten wieder anzufangen. Und jetzt klingt es näher, allerdings schon so, als ob sich das alles nur in den Wolken abspielen würde, ohne Bodenkontakt. Bis auf den einen Donner, der dann doch so kracht, als hätte es irgendwo eingeschlagen. Ich bin zum Glück nicht auf einem Grat, sondern im Wald, muss aber noch über einen Pass hinweg. Ich gehe schneller. Dann riecht es nach Regen. Ziehe ich nun den Poncho schon über oder warte ich noch? Wenn ich ihn zu früh überziehe, schwitze ich beim schnellen Gehen nur noch mehr. Ziehe ich ihn zu spät über, bin ich vorher nass! Dann fallen die ersten Tropfen. Jetzt ist es soweit. Immerhin noch rechtzeitig habe ich den Poncho an. Plötzlich fallen kichererbsengroße Hagelkörner und es donnert immer noch. Nur schnell rauf zum Pass! Dann bin ich rüber, während das Gewitter auf der anderen Seite zu bleiben scheint.
Puh! Regen und Hagel lassen nach und hören schließlich ganz auf. Also wieder runter mit dem Poncho. Ein Franzose holt auf und wir unterhalten uns ein wenig, als der Regen den Pass überwunden hat und uns einholt. Bleibt das bei dem bisschen oder wird das jetzt noch mehr?
Natürlich wird es noch mehr. Bis ich den Poncho neu sortiert habe, bin ich nass. Mist! Und als ich soweit bin, hört es wieder auf. War ja klar! Immerhin ist das Refuge nicht mehr weit. Die Sachen werden bis morgen schon trocknen. Und während ich noch unter der Dusche stehe, rauscht draußen noch ein dicker Hagelschauer runter. Gut, dass ich schon angekommen bin!
[…] von ihnen. So erging es mir auch letztes Jahr auf dem Refugi d’Ull de Ter in den Pyrenäen (s. https://radundfuss.net/2022/07/26/gratwanderungen/). Aber zum Glück kommt das selten vor, nicht zuletzt, weil ich solche Umgebungen meide. Sobald nur […]