Freitag, 15. Juli
Die Vögel zwitschern, es dämmert. Und wie jeden Morgen fläzt sich ein Teufelchen auf meiner Schulter und sagt: „Bleib ruhig noch ein bisschen liegen, es ist so schön warm hier.“ Auf der anderen Schulter trippelt ein Engelchen schon nervös von einem Bein aufs andere und sagt: „Komm, steh auf, sonst kommst du schon viel zu weit unten in die Sonne und dann wird es wieder so heiß und anstrengend!“ Um 6:20 Uhr schließlich überzeugt mich das Engelchen und das Teufelchen zieht sich mürrisch zurück. Trotzdem dauert es bis 7:45 Uhr bis ich gefrühstückt und abgewaschen habe, alles gepackt habe und loskomme.55 Minuten später bin ich wieder in Noarre. Kurze Pause.
Steil steigt der Weg hinter Noarre an. Ich bin froh, dass ich den noch nicht in der Sonne gehen muss (danke, Engelchen!). Die nimmt mich erst um 9:30 Uhr in 1.850 m Höhe ins Visier. Mehrere Seen (und mehrere Pausen) später stehe ich am Col de Certascan.
An einem der Bergseen hatte ich eine Spanierin getroffen, die auch zum Refugi Certascan unterwegs ist, und zwar um dort als Saisonkraft zu arbeiten. Oberhalb des Col de Certascan treffe ich sie wieder, wie sie gerade vom Pic de Certascan herunterkommt. Da will ich nun hoch. Es ist zwar ein scheißsteiler, schuttiger Anstieg, der erst besser wird, als er unterhalb des Gipfels in Blockgelände übergeht, aber die Aussicht lohnt!
Nach einem Powernapping am Col steige ich zur Hütte ab, wo ich die Spanierin, die mich freudig wieder begrüßt, erst gar nicht erkenne, so ohne Sonnenbrille, dafür mit Küchenschürze.
Ich esse etwas und gehe dann noch eine gute Stunde weiter bis zum Estany de Romedo de Dalt (warum müssen Seen hier eigentlich oft so lange Namen haben?), wo ich einen herlichen Zeltplatz finde.
Samstag, 16. Juli
Ich stehe auf, packe meine Sachen und gehe ohne Frühstück los. Das hole ich eine halbe Stunde später am nächsten See in einer kleinen Schutzhütte nach. Am Zelt war es mir dafür zu kalt.
Ich steige entlang des Rio de Romedo ab, wobei ich immer wieder stehen bleibe, weil mich die vielen Wasserfälle, über die der Fluss die steile Schlucht hinunterspringt, in ihren Bann ziehen. So schaffe ich wahrscheinlich nie die Strecke, die ich mir für heute vorgenommen habe. Aber ich bin ja auch nicht auf der Flucht. Reisen im Sinne von Erleben bedeutet ja auch, keinen allzu festen Plan zu haben und Spontaneität zuzulassen. Das ist zumindest meine Lehre aus der EuroVelo-9-Radtour von 2018.
Ich könnte noch mehr Zeit verbringen, wollte ich die ganzen Blaubeeren ernten, die beidseits des Wegs wachsen. Die Verführung ist jedenfalls groß, köstlich wie sie sind.
Auf 1.700 m muss ich den Fluss überqueren. Zunächst sehe ich keine Möglichkeit, das trockenen Fußes zu schaffen. Als ich jedoch gerade Schuhe und Socken ausziehen will, sehe ich doch noch eine. Auf zum Teil nassen Steinen gelange ich ans andere Ufer.
Im unteren Teil ist der Weg mal wieder sehr verwachsen. Entsprechend langsam komme ich voran. Am Ende der Schlucht angekommen, an der Pont de Boavi, ziehe ich wieder Schuhe und Socken aus und halte die Füße ins kühle Wasser – ah, wie angenehm!
Nach langem Talaufstieg kommt mit dem Col de Sellente ein neuer Pass und mit dem Estany de Baborte ein neuer See ins Bild.
Am Refugi de Baborte treffe ich zwei Spanierinnen, die, wie viele, denen ich heute begegne, einen Wochenendtrip machen. Die zwei meinen, dass die Sonne heute sehr „strong“ wäre. Hm, den Eindruck habe ich eigentlich schon seit zwei Wochen. Aber ja, nach längerer Pause, bei der ich auch mal wieder eines meiner beliebten Fertiggerichte koche, steige ich zwar erst gegen 17 Uhr ab, aber ich muss schon sagen, die Sonne knallt heftig. Ich finde das ziemlich anstrengend. Es geht aber auch mal wieder reichlich steil runter. Die dunkelgrünen Latschenkiefernfelder, durch die ich zeitweise gehen muss, heizen sich in der Sonne natürlich auch noch besonders stark auf.
An der Cabana de Basello kann ich wieder eine Pause im Schatten machen. Das Thermometer zeigt 27 Grad und das um 18:00 Uhr und auf knapp 2000 m Höhe! So wird auch dieser Pause wieder länger. Aber auf jeden Fall will ich heute noch ins Tal, damit der erste Aufstieg morgen im Schatten erfolgt.
Die Zeltplatzsuche erweist sich als nicht ganz einfach. Eigentlich wollte ich in Flussnähe im Wald zelten, aber ich finde einfach keinen geeignetem Platz. Schließlich sehe ich auf einem Parkplatz eine nahezu ebene Fläche zwischen zwei Autos, deren Fahrer wahrscheinlich erst morgen wiederkommen. Ja, warum eigentlich nicht?!
Sonntag, 17. Juli
Da ich mich mit der Proviantplanung offenbart etwas vertan habe, will ich heute unbedingt bis zum Refugi Sorteny laufen, eine der wenigen bewirtschafteten Hütten auf dieser Etappe, damit ich mit dem Rest meines Proviants noch bis Hospitalet-près-l’Andorre komme, wo ich übermorgen Abend sein sollte.
Am Morgen gilt aber erst einmal: gleiche Taktik wie gestern, also aufstehen, Rucksack packen, Zelt einpacken und erstmal warm laufen. Nach 20 Minuten mache ich mir am am Pla de Boet mein Frühstück. Dann laufe ich zum Col de Boet hoch, wo mich auf dem Aufstieg bereits die Sonne einholt.
Eine halbe Stunde hinter dem Col gibt es den nächsten See, den Étang de la Soucaranne. Und was gibt’s hier noch? Klar, Pause!
Mittags bin ich in Andorra und auf dem höchsten Punkt meiner heutigen Tour. Denn der Col de Rat bildet mit seinen 2.539 m Höhe die Grenze zwischen Frankreich und Andorra. „Neuer Pass, neuer See“ gilt dieses Mal allerdings nicht. Stattdessen gibt es die Aussicht auf ein Skigebiet.
Andorra: Land der gut markierten Wege und der hohen Roaming-Gebühren. Aber offenbar auch der Überraschungen. Wie ich mich dem Skigebiet nähere, sehe ich, dass eine Seilbahn fährt. Laut Tom Martens ist hier im Sommer alles geschlossen. Aber das kann doch kein Probebetrieb sein! Am Sonntag? Nein, aber wo eine Seilbahn fährt, gibt es bestimmt auch eine Bewirtung! Und tatsächlich: das Restaurant hat geöffnet, was ich gerne für einen Imbiss und eine eiskalte Cola nutze. Nur auf die Musikbeschallung könnte ich gerne verzichten.
Nach der willkommenen Rast nehme ich ganz dekadent die Seilbahn und lasse mich 2 km weiter und 200 m hinunter chauffieren. Während ich noch überlege, wo ich jetzt weitergehe, kommt ein Auto vorbei und ich halte einfach mal den Daumen raus. Und tatsächlich hält es sofort. Das Auto ist allerdings ziemlich voll. Die Rücksitze umgeklappt, hinten drin ein Rennrad und jede Menge Pröll. Auch auf dem Beifahrersitz liegen diverse Flaschen und Bekleidung. Aber der Fahrer, ein Franzose auf einer sonntäglichen Trainingstour, wie sich bald herausstellt, räumt alles bereitwillig beiseite, sodass ich mitfahren kann. Ich bin sehr froh darüber, mir etliche Kilometer Straße ersparen zu könnten, denn es wird mal wieder immer heißer, je tiefer wir kommen. Das Thermometer zeigt schon wieder über 30°.
Dann beginne ich den letzten Aufstieg für heute zum Refugi Sorteny, was noch einmal eineinhalb heiße, schweißtreibende Stunden dauert.
Deine Füße im Wasser, lieber Thomas, – diesem Foto verleihe ich den Hitzepreis des Jahres! Ich finde es enorm, was du alles bei diesen Affentemperaturen, die uns ja schon im Mai (!) in den Pyrenäen erwischt hatten, LEISTEST. Das kann ich nur bewundern, weil ich selbst zzt meist in meiner „AC-Fluchtburg“ hänge. Die Fotos sind wunderschön, ich kann sie nicht oft genug anschauen, und wie märchenhaft wäre die Landschaft unter normalen Bedingungen – für den Anblick dieser Panoramen könnte man dann schon einige der heftigen Strapazen in Kauf nehmen. Aber so??? Das verschafft dir den Orden „HHP“ (HitzeHeldPyrenäen). Viel Energie… Weiterlesen »
„HHP“ – das ist gut 😅, aber zuviel der Ehre. Wie Viktor ja schon hingewiesen hat, kann ich ob der Temperaturen im Rheinland oder weiter südlich im spanischen Binnenland ja noch ganz froh über die „gemäßigten“ Temperaturen in der Höhe sein! Und ehrlich gesagt: Lieber öfter schwitzen als permanent ohne Sicht im Regen laufen!
Angesichts der Temperaturen, die aktuell in Spanien und Frankreich herrschen, kannst Du froh sein, dass du „nur“ 30°C hattest. Dank sei der Höhe!
Möge die Kühle des Morgens noch lange mit Dir sein, LG – Viktor