Heute (und morgen) bleiben die Räder planmäßig im Skiraum der Pension. Statt dessen laufen wir durchs Riesengebirge und durchqueren das Einzugsgebiet der Elbe. Heute wollen wir auf die Schneekoppe, den mit 1.603 m höchsten Gipfel des Riesengebirges, wobei wir das Quelltal der weißen Elbe (Bile Labe) umrunden.
Rübezahl, der in seiner Heimat „Herr der Berge“ heißt, soll den Menschen gegenüber ja meistens wohlgesonnen sein, es sei denn, sie versuchen, ihn übers Ohr zu hauen, dann kann er sehr böse werden! Wir führen nichts Böses im Schilde und hoffen deshalb auf seine Großzügigkeit: schöne Landschaft, schönes Wetter, schöne Tour.
Wir fahren mit dem Bus zur Schindlerbaude (Spindlerova bouda) hoch und ersparen uns so einige Höhenmeter – der Tag wird noch lang genug werden. Dann geht es über einen breiten Weg auf der polnischen Seite des Grenzkammes nach Osten. Im Höhersteigen weicht der Fichtenwald nach und nach den Krüppelkiefern, die wir auch aus den Alpen, wenn auch erst in höheren Regionen kennen.
Nach drei Kilometern kommen wir an eine skurrile Felsformation, eine typische granitene „Wollsackverwitterung“, wie sie auch Caspar David Friedrich in seinem einsamen Wanderer im Nebelmeer verewigt hat. Das Bergsteigergen in mir bricht durch und gibt erst Ruhe, nachdem ich einen Aufstieg gefunden habe.
Einige Kilometer voraus kann man jetzt bereits die Gipfelpyramide der Sniezka, der Schneekoppe erkennen. Der Weg ähnelt nun mehr einer alten Römerstraße als einem Wanderweg, Stein an Stein ist ein dichtes Pflaster aus Natursteinen gelegt, die eine nahezu horizontale Fläche ergeben, nur zwischenzeitlich mal unterbrochen von Holzstegen, wo das Gelände ausnahmsweise etwas sumpfiger ist. Links von uns tun sich zwei Kare auf, die an ihrem Grund tiefe, klare Bergseen zurückhalten, von unvorsichtigen Wanderern sicherheitshalber durch Geländer getrennt. Die Landschaft erinnert an die Vogesen.
Am „Dom Slaski“, dem letzten Gasthof unterhalb der Schneekoppe tobt der Bär. Offenbar hat ganz Polen heute Schul-Wandertag. Wir können die Klassen nicht mehr zählen, die hier Pause machen oder uns später auf dem Weg zum Gipfel begegnen – vorneweg die „Coolen“, die ihre Lieblings-Musik über Bluetooth-Lautsprecher der ganzen Umgebung mitteilen (ob die will oder nicht), dahinter grüppchenweise die verschiedenen Klassencliquen und am Schluss die sich angeregt unterhaltenden Lehrkräfte, die nur dem Schein nach versuchen, den Überblick zu behalten.
Aber auch ohne die Schulklassen sind hier Horden von Leuten unterwegs. Ich versuche mir immer klarzumachen, dass auch wir Teil des Touristenstroms sind, aber Spaß macht das trotzdem nicht. Es ist einfach nicht mein Ding, mich in einer riesigen Menschenmenge zu bewegen. Aber klar ist auch: wer das nicht will, muss entweder solche Touri-Hotspots meiden oder antizyklisch unterwegs sein: im Herbst zum Beispiel oder frühmorgens – und das gilt auch für uns! Mit anderen Worten: da müssen wir jetzt wohl durch!
Der Aufstieg ist steil und schweißtreibend, oben erwartet uns eine weite, dunstige 360-Grad-Sicht nach Polen und Tschechien und erstaunlicherweise nur eine minimale Restauration und kein Klo (!), worauf allerdings unten schon hingewiesen wird.
Nach einer angemessenen Gipfelpause steigen wir wieder ab und lassen die Menschenmassen bald hinter uns, als wir auf Holzstegen sumpfige Wollgraswiesen durchqueren, an deren Rändern Hahnenfuß, Knabenkraut-Orchideen und andere Pflanzen wachsen: das Einzugsgebiet der „weißen“ Elbe. Weit ist diese Hochmoor-Landschaft, mittendrin liegt das riesige Gebäude der Lucni bouda, die im Winter wohl Stützpunkt für Motorschlitten-Touren ist. Noch zwei Kilometer weiter lädt ein Aussichtspunkt zu einem Blick nach Westen hinüber zur „offiziellen“ Elbquelle und weiter ins Riesengebirge hinein ein.
Irgendwas fehlt: außer Insekten sehen wir keine Tiere und das schon den ganzen Tag lang. Egal, ob Wald, Fels- oder Sumpfgegend: allenfalls ein paar wenige Vögel sind zu hören, aber nichts größeres ist zu sehen, auch keine Spuren oder Losung! Erst weiter unten wird eine Baby-Ringelnatter unseren Weg kreuzen und das war’s dann auch für heute.
Auf einem schmalen und regelrecht „alpinen“ Weg tauchen wir in ein weiteres Kar und schließlich in den Waldgürtel ein. Etliche Kilometer und Höhenmeter später erreichen wir Spindlermühle zwischen einem Wellnesshotel und einem Musik-Club hindurch, aus dem passenderweise New-Age-Musik nach außen dringt.
Ach ja: Danke, Rübezahl!
23 km / 900 Hm (1.370 im Abstieg)