Mittelalter

Sonntag, 21. Juli

Über Nacht ist mein Trikot im Zelt nicht getrocknet. Es war wohl einfach alles zu nass. So werde ich wohl im Poloshirt losfahren – das Trikot schnalle ich zum Trocknen aufs Gepäck. Als ich morgens um 9 Uhr das (natürlich auch nasse) Zelt eingepackt habe und in die Pedale trete, sind es bereits 23 Grad. Meine Hand ist über Nacht noch mehr angeschwollen und fühlt sich an wie Sandpapier.

Natürlich muss ich erst einmal nach Rothenburg hoch fahren, bevor ich mich auf den Weg nach Dinkelsbühl mache. Wieso hoch? Naja, es heißt nicht ohne Grund „ob der Tauber“ und nicht „an der Tauber“! Übrigens habe ich die heutige Etappe extra kurz geplant, um den nachmittäglichen Gewittern ausweichen zu können. die sollen so ab 14 Uhr wieder loslegen! Außerdem: Rothenburg ob der Tauber! Der Inbegriff deutscher Romantik, selbst bis nach Japan und in die USA. Also wenn ich schon mal hier bin, dann sollte ich mir auch dafür ein wenig Zeit nehmen!

Viel los ist noch nicht in der Stadt – der Vorteil der frühen (Sonntags-) Stunde. Die Altstadt aus dem Mittelalter ist weitgehend erhalten. Oder behutsam und ohne modernistische Brüche wieder aufgebaut worden (ein gutes Drittel der östlichen Altstadt wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört). Dieses nahezu unverfälschte und ursprüngliche Stadtbild hat seinen Reiz – und eine dementsprechende touristische Anziehungskraft.

Kurz nach 11 verlasse ich Rothenburg wieder. Gut so, denn mittlerweile sind auch die Touristengruppen aufgewacht. Immerhin ist das Trikot jetzt auch wieder nahezu trocken, sodass ich es für die Weiterfahrt anziehen kann. Im warmen Fahrtwind trocknet der Rest dann im Nu, bevor es vom Schweiß erneut durchnässt wird.

Die Hand halte ich dagegen mit einem Lappen aus dem Reparaturset nass, das ist angenehmer als die Sonne auf der ohnehin schon heißen Hand.

Ganz unspektakulär fahre ich kurz vor Walkersdorf über die europäische Wasserscheide, die die Rhein- von den Donauzuflüssen trennt.

Ihm ist’s egal, ob Donau oder Rhein – Hauptsache, die Frösche stimmen!

Um Viertel vor Eins bauen die ersten Quellwolken ihre Türme auf – noch 16 Kilometer bis Dinkelsbühl.

Larieden

Kurz vor meinem Ziel kommt von hinten jemand angeradelt, verhält kurz neben mir, guckt zum Kurbellager hinunter und sagt: „kein E-Bike!“. Ich: „Nee, wieso?“ Er darauf: „wollte nur wissen; weil Sie so schnell waren!“ Sprichts und fährt davon, ebenfalls ohne Motor und mit zwei Gepäcktaschen. !?!?!?

In Dinkelsbühl gerate ich unversehens in einen historischen Umzug. Gerade eben noch erreiche ich mein vorgebuchtes Hotel, bevor die Straßen und der Zugweg abgesperrt sind. Was ist hier los?

1632 war es, als die (katholisch regierten) Dinkelsbühler sich zunächst dem (evangelischen) Heer der Schweden widersetzten, bis sie zu der Einsicht gelangten, dass ein weiterer Widerstand aussichtslos sei, sodass die Stadt übergeben werden sollte. Der schwedische Heerführer wollte sie aber für ihren anfänglichen Widerstand bestrafen, die Stadt plündern lassen und anschließend zerstören. Die Tochter des Turmwächters hatte allerdings erfahren, dass kurz zuvor der Sohn des Heerführers gestorben war. Sie sammelte die Kinder der Stadt, zog mit ihnen vor den Heerführer und bat um Gnade für die Stadt – um der Kinder willen. Der Anführer der Schweden war daraufhin so gerührt, dass er die Stadt tatsächlich verschonte!

Schöne Geschichte, oder? Deshalb wird sie jedes Jahr mit vielen kostümierten Gruppen gefeiert: schwedischen Soldaten, Kindergruppen, Bauern, Marodeuren – alle mittelalterlich verkleidet. Leider ist die Geschichte vermutlich nicht wahr. Denn während die Stadtübergabe an die Schweden 1632 erfolgte, ist bereits drei Jahre früher die „Dinkelsbühler Kinderzeche“ belegt, bei der der Auszug der Lateinschüler am Ende des Schuljahres mit einem Zechgeld verbunden wurde. Wer da wen warum bezahlt hat, ist mir allerdings nicht ganz klar geworden. Einerseits heißt es über das damalige katholische Chorschulwesen, dass Magister und Kantoren 3 Gulden erhalten haben, „als sie die Jugend ausgeführt zur Zech“, andererseits über die evangelische Latein- (und die evangelische Deutsche) Schule: „Die Stadtkammer zahlte ab 1666 regelmäßig den Kindern an ihrer jeweiligen Zeche 4 Gulden aus.“ Also letzteres hätte mir als Schüler sicher auch gefallen!

Und mal ganz abgesehen von dem Fest: Dinkelsbühl ist noch spektakulärer als Rothenburg o.d.T. Die ehemalige Reichsstadt gilt aufgrund des außergewöhnlich gut erhaltenen spätmittelalterlichen Stadtbildes als die „schönste Altstadt Deutschlands“, sagt der Focus. Recht hat er! Einfach noch größer und noch vollständiger durch Stadttore und -mauern umgrenzt.

Und was war jetzt mit den Gewittern? Die wurden erst auf 18 Uhr verschoben und dann ganz abgesagt. Ich hätte also noch weiterfahren können, aber ein halber Pausentag tut mir auch ganz gut. So kann ich ein bisschen Wäsche waschen und auch alles, was gestern nass geworden ist, wieder komplett trocknen. Und auch meine Hand findet es nicht schlecht, wenn Sie heute nichts mehr leisten muss. Und außerdem: hätte ich sonst die „Dinkelsbühler Kinderzeche“ kennengelernt?

Der Umzug wird übrigens auch live kommentiert. Und dabei habe ich etwas über die Herkunft einer Redewendung und eines Ausdrucks gelernt:

Von der Pike auf lernen

Die Pike war im Dreißigjährigen Krieg eine Waffe, mit der Musketenschützen beim zeitintensiven Nachladen ihre Musketen vor feindlichen Reitern geschützt werden sollten. Die Pikeniere waren zu der Zeit also lediglich den Musketieren beigeordnet und mit entsprechend niedrigem Status versehen. Es war das erste und einfachste Kriegshandwerk, das man lernen musste, bevor man es weiter bringen konnte. Man musste also das Kriegshandwerk „von der Pike auf lernen“!

Spießbürger

Die Bürgerschaft einer Stadt war als Gegenleistung zu ihrem privilegierten Stand der Stadt zu Diensten verpflichtet. Während die Bessergestellten im Falle eines Angriffs auf die Stadt Söldner bezahlen konnten oder ihre Stadt zumindest zu Pferde verteidigten, nutzten die Ärmeren zur Verteidigung einen Spieß – einfach und kostengüstig herzustellen und gleichzeitig effektiv einzusetzen (s.o.). War der „Spießbürger“ also ursprünglich durchaus positiv konnotiert, überwog mit der Zeit wohl der Aspekt der „Ärmeren“ und „Untauglichen“. Letztlich wurde der Begriff in die Studentensprache übernommen und von diesen, die lange vor allem aus adeligem oder reichem Bürgerhaus kamen, zur Abgrenzung gegen weniger Privilegierte, vermeintlich kleinbürgerliche und aus ihrer Sicht engstirnige Menschen genutzt.

und die Hand?

… sieht heute Abend so aus:

So, jetzt reicht’s aber für heute – irgendwie wird der Artikel immer länger und länger …

Time:
21.7.2024, 09:06:
Duration:
04:59:05
Ascent/Descent:
712 m 280 m
Distance:
45.70 km
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3 Kommentare
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Viktor
4 Monate zuvor

„Ich drück der Hand den Daumen“ … wäre vielleicht ein nettes Wortspiel… aber ich bin ganz der Meinung von Andreas. Du solltest nichts riskieren.
Alles Gute und weiterhin viel Glück mit den abgesagten Wolken.

Andreas Keller
Andreas Keller
4 Monate zuvor

Wegen der Hand solltest du vielleicht mal einen Arzt aufsuchen. Gute Besserung und weiter gute Fahrt.