Fachwerk, Kirschen und Salz

Montag, 15. Juli

Ich habe lange geschlafen. Dadurch komme ich eigentlich viel zu spät los, denn heute soll es bis zu 30 Grad warm werden. Aber noch sind die Temperaturen angenehm, in der Sonne nicht zu heiß und im Schatten angenehm kühl. Auch der Wind, der gestern die Fahrt noch etwas anstrengend gemacht hat, hat sich heute gelegt.

Einbeck ist ja vor allem für sein Bier bekannt. Für einen Brauhausbesuch ist es allerdings etwas früh – schlechtes Timing! Aber auch die Altstadt ist wunderschön und so mache ich einen ausgiebigen Fotobummel. Dann suche ich noch einen Fahrradladen, um meine Gangschaltung einstellen zu lassen, was ich selber nur suboptimal hinbekommen habe. Der erste, den ich besuche, macht erst um 14:30 Uhr auf und der zweite hat Betriebsferien. Und das in der Fahrradsaison!

Für einige Kilometer geht es nun leider an einer stark befahrenen Landstraße entlang. Nur kurz findet der Radweg ein wenig Ruhe in Sülbeck, das von der Landstraße großzügig umfahren wird. Immerhin ist der Radweg glatt asphaltiert und so kann ich die laute Strecke einigermaßen zügig hinter mich bringen.

Eine angenehme Überraschung neben der lauten Straße stellt die Leine-Niederung zwischen Northeim und Salzderhelden dar. Mit ihren 1500 Hektar Feuchtgebieten ist sie von internationaler Bedeutung für brütende, rastende und überwinternde Vogelarten. Über 300 Arten wurden hier bislang festgestellt, mehr als 120 brüten hier und viele davon stehen auf der Roten Liste der gefährdeten Tierarten. Es gibt ein Beobachtungshaus, das zur Straße hin geschlossen ist, sodass man prima die vielfältigen Vogelstimmen hören kann.

Die letzten Kilometer nach Göttingen hinein verlaufen angenehm schattig auf einem Waldpfad, bei dem das Thermometer meines Fahrradcomputers nur noch 29 Grad anzeigt.

Göttingen scheint touristisch nicht soviel zu bieten. Aber es hat einen Fahrradladen am Bahnhof. Der hat zwar auch schon (unplanmäßig) zu, aber der Besitzer, der gerade den Check-In und -Out an der Radstation macht, hilft mir prompt und erfolgreich!

Ein bisschen Sightseeing muss natürlich dennoch sein: Ich schaue mir das Mahnmal am Platz der Synagoge an, also an der Stelle, an der sie mal stand, bevor sie 1938 in der „Reichskristallnacht“ von verblendeten Fanatikern, von denen es schon damals viel zu viele gab, niedergebrannt wurde. Zur Aufheiterung dann noch den Brunnen vor dem Rathaus. Er wird gekrönt von der Gänseliesel, dem Wahrzeichen Göttingens. Es heißt, das viele Gänsehüterinnen damals Elisabeth hießen, was, in der Koseform, dem Berufsstand dann den Namen gab.

Insgesamt ist das obere Leinetal etwas breit und langweilig. Dafür ist es heute anstrengend – liegt wohl an der Temperatur und einer gewissen Schwüle. Jedenfalls mache ich schon früher Schluss als geplant und zwar in Friedland. Hier gibt es auch ein Museum zum Durchgangslager, über das zwischen 1945 und 1989 über vier Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und Ausgewiesene in die Bundesrepublik gekommen sind. Das Museum wird gerade neu gebaut.

Time:
15.7.2024, 09:51:
Duration:
08:22:46
Ascent/Descent:
322 m 221 m
Distance:
77.53 km

Dienstag 16 Juli

In der Nacht kracht ein ordentliches Gewitter herunter. Da bin ich doch froh, dass ich jetzt nicht im Zelt liege. Als ich am Morgen losfahre, endlich mal früher als sonst, fühlt sich die Luft sauber an und angenehm kühl.

Wenige Kilometer hinter Friedland verlasse ich den Leine Heide Radweg. Ich muss nun die Wasserscheide zwischen Leine und Werra überqueren. Ich erreiche die Werra in Werleshausen, einem Ortstteil von Witzenhausen. Die Gegend gilt als das größte geschlossene Kirschenanbaugebiet Europas inkl. alljährlicher Kesperkirmes (die Kirschen heißen hier Kesper) und Kirschenkönigin! Leider sehe ich weder Kirschen noch Königin.

Nun fahre Ich idyllisch an der Werra entlang auf einem unbefestigten und ziemlich nassen Pfad. Offenbar hat es hier vorhin noch geregnet. Die Werra trent hier Thüringen von Hessen und früher die DDR von der BRD. Immer noch gibt es Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, auch wenn viele mehr gefühlt als real sind. Aber ohne die ehemalige Grenze gäbe es wohl auch diesen Radweg nicht. Denn hier war damals Niemandsland und so offenbarten sich Gestaltungsmöglichkeiten nach der Überwindung der deutsch-deutschen Teilung, auch wenn das Teilstück zwischen Wallhausen und Lindewerra erst 2015 nach einigen Umlegeverfahren fertiggestellt wurde. Der Radweg orientiert sich hier am Verlauf des ehemaligen Kolonnenweges der Grenztruppen.

Bad Sooden-Allendorf ist für seine Solequellen bekannt aus denen jahrhundertelang Salz gewonnen wurde. Dass es dadurch damals zu Reichtum gelangte, sieht man den vielen gut erhaltenen und reich verzierten Fachwerkhäusern noch an.

Nach dem Essen strecke ich mich lang auf der Bank aus. Was für eine idyllische Mittagspause: der Bussard schreit, ab und an mischt sich ein Specht ein, der Wind rauscht in den Blättern, die Sonne wirft dazu ihre Lightshow auf mein Gesicht, ein Käfer krabbelt durch meinen Bart … ein Käfer krabbelt durch meinen Bart? Ok, das ist jetzt etwas zuviel der Idylle, schnell weg mit dem Ding, aber sonst passt alles.

Der Nachmittag vergeht in permanentem leichten Auf und Ab, viel Landschaft, zunehmender Schwüle und endet schließlich auf einem Campingplatz, wo ich mich erstmals wieder traue, mein Zelt aufzubauen. Das gebrochene Gestängesegment ist zwar krumm, aber geschient und bandagiert. Prompt kommt ein Regenschauer vorbei und ein paar Böen sagen guten Tag. Aber alles bleibt da, wo es hingehört!

Time:
16.7.2024, 08:07:
Duration:
08:31:03
Ascent/Descent:
822 m 629 m
Distance:
77.91 km
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Viktor
3 Monate zuvor

Immer wieder toll zu sehen, wie viele schöne Fachwerk-Innenstädte es in Deutschland noch gibt.