Auf dem Teufelsweg zum Würfelglück und über die Sella von Stange zu Stange

Mittwoch, 28. September

Ich lag schon in Schlafsack, als eine Frau an das einzige Fenster des Lagers ging und offenbar die Klappläden schließen wollte. Hallo? Gibt es draußen Neonreklamen oder beleuchtete Hauptstraßen? Es gelang ihr nicht. Zumindest nicht vollständig. Die Rechnung kam in der Nacht. Es wurde stürmig und mit einem lauten Schlag knallte der Laden erst gegen die Hauswand, dann gegen das Fenster. Alle wach? Die nächtlichen Versuche, die Arretierung wiederzufinden, klappten nicht. Zum Glück legte sich der Sturm bald wieder.

Es hat gefroren. Wolken hängen dicht und grau über den Bergen, aber so hoch, dass die Gipfel frei sind. Nach Norden hin zeigt sich ein großes Karstplateau mit wenigen aufgesetzten Gipfeln.

Morgens kurz hinter der Puez-Hütte

Wir laufen los, warm eingepackt, damit der kalte Wind nicht allzu viel ausrichten kann. In einem Bogen geht es ohne größere Höhenunterschiede ums Längental herum, das wie mit einem riesigen Schwert eingeschnitten nach Wolkenstein hinunter leitet. Auf seinem westlichen Rand steigen wir zum Crespeinajoch auf, um anschließend in einer horizontalen Querung durch einen schattigen Schneehang zum Cirjoch zu gelangen. Hier offenbart sich uns die Sella in ihrer ganzen Schönheit. Das schreit förmlich nach einer Pause, zumal sich auch die Sonne gerade blicken lässt.

Crespeina-Joch
In der Querung zum Cir-Joch
Blick auf die Sella vom Cir-Joch

Der Abstieg zum Grödner Joch führt uns durch eine bizarre Felslandschaft östlich der Cirspitzen. Felsturm reiht sich an Felsturm. Und hindurch findet unser Weg spektakuläre Lücken, die zum Teil mit hölzernen Treppen und Steiganlagen dem Gelände abgetrotzt sind.

Im Abstieg zum Grödner-Joch

Oberhalb des Grödner Jochs hat die Jimmy-Hütte noch geöffnet, die eigentlich am letzten September-Sonntag schließen sollte. Die Gelegenheit nutzen wir gerne für einen Cappuccino. Und auch Marlene und Mimi (Miriam) sitzen schon hier, die wir bereits auf der Schlüterhütte gesehen und mit denen wir gestern auf der Puezhütte ins Gespräch gekommen waren. Gemeinsam genießen wir die Pause im Angesicht der Sella und auch den Umstand, dass hier vom Lärm der Passstraße noch nicht viel zu hören ist.

Kaffepause mit Marlene und Mimi

Runter in die „Zivilisation“ müssen wir trotzdem. Wir machen es kurz und steigen auf der anderen Seite auf dem Weg 666 in den Sellastock ein. 666? Ist das nicht eine teuflische Zahl? Es beginnt zumindest harmlos. Der Weg ist wie gekehrt – eine Qualität, von der ich in den Pyrenäen nur träumen konnte!

Dann steigen wir ins Setustal ein, das als riesige Schuttschlucht von der Sella herunterzieht. Es wird so steil, dass Leo irgendwann meint „ich hör jetzt mal auf zu reden, ich krieg sonst keine Luft mehr!“.

Ist der Weg zunächst nur geröllig, nimmt mit zunehmender Höhe auch der Schnee zu. Immer wieder kommen uns Leute entgegen, die den Pisciadu-Klettersteig hinter sich haben und nun auf dem Abstieg von den Schneemengen überrascht sind – der Klettersteig war wohl schneefrei! Je höher wir kommen, desto fester wird die Schneeauflage, zwar nicht vereist, aber durch viele Füße glatt getreten. Die Microspikes wären jetzt echt hilfreich, aber die liegen zu Hause im Schrank. Ich könnte mich in dem Hintern beißen, dass ich nicht daran gedacht habe, die einzustecken!

Zum Glück ist der obere Teil der Schlucht mit Drahtseilen versichert. Der Weg bleibt trotzdem extern herausfordernd, definitiv das Anspruchsvollste, was diese Tour bisher zu bieten hat! An einer besonders steilen Stelle rutscht Leo weg und kann sich nur am Drahtseil noch halten. Ohne diese Sicherungen wären wir schon längst umgekehrt! Wie es Marlene wohl geht, die uns erzählt hat, dass sie mit ausgesetzten Stellen so ihre Probleme hat? Aber die zwei sind ja vor uns, es sollte also alles gut sein!

Naja, so wirklich gut war es wohl nicht, wie wir – endlich auf der Pisciadu-Hütte angekommen – erfahren. Mimi hatte bereits überlegt, wie sie wieder hinunter kommen, sollte Marlene nicht mehr weiter wollen oder können. Aber letztlich wachsen wir ja alle an unseren Herausforderungen und Marlene ist heute bestimmt ein gutes Stück größer geworden!

Die Pisciadu-Hütte

Aber auch wir sind froh, als wir endlich oben sind! Wie beziehen unser Lager und treffen uns dann in der Gaststube. Nach dem ersten Bier werden wir von den beiden in die Kunst des Kniffelns eingewiesen, ein Würfelspiel, von dem ich bisher nur den Namen kannte. Das Würfelglück, das diesem Beitrag den Namen gibt, ist an mir allerdings spurlos vorüber gegangen und hat stattdessen Leo angesprungen, der – genauso Kniffel-Neuling wie ich – haushoch gewonnen hat! Danach quatschen wir uns derart fest, dass wie schließlich die letzten sind, die in die Schlafsäcke kriechen. Ein schöner Hüttenabend!

Donnerstag, 29. September

Ein fantastischer, von Wolkenschwaden verschleierter Sonnenaufgang! Zu kurz, um die Kamera aus dem Lager zu holen und schussbereit zu bekommen. Zum Glück ist Leo mit dem Smartphone zur rechten Zeit am rechten Ort! Mir blieben immerhin noch ein paar mystische Wolkenstimmungen. Dann meinen die Wolken, es sei nun genug der Mystik und ziehen zu.

Nach einem Gespräch mit dem Hüttenwirt sehen wir uns in unserem Plan, heute die Sella zu überschreiten, bestätigt. Er meint zwar, es wäre schade, wenn wir nichts sehen würden, aber schaffen würden wir das schon!

Der Rest ist eigentlich schnell erzählt: Wolken und Schnee, Schnee und Wolken. Manchmal noch Sturm dabei. Manchmal ahnt man auch den Weg noch unterm Schnee, aber meistens orientieren wir uns an den Stangen, die in unregelmäßigen, aber überwiegend Nebel-tauglichen Abständen gesetzt sind. Karl-May-Assoziationen kommen auf, nur, dass es in seinen Erzählungen wesentlich wärmer war.

Bonmots machen die Runde: Was wir alles sehen könnten, wenn wir etwas sehen würden! Aber wie Sie sehen, sehen Sie nichts! Schade eigentlich, denn das Panorama vom Zwischenkofel muss phantastisch sein: „Herrlicher Tiefblick nach NO ins Val de Mesdi … Im N in der Ferne die Zillertaler Alpen. Weiter rechts Fanesgruppe (Heilgkreuzkofel, Cunturines), Tofanen, Sorapiss und – gerade noch sichtbar – der Antelao“, so schwärmt unser Höhenwegs-Führer. Wir schwärmen vom 360-Grad-Wolken-Panorama und machen ein Wolken-Selfie auf dem Gipfel. Dabei sind die Wolken oft so dünn, dass ab und an die Sonne hindurch pastelliert und wir einen kurzen Blick auf die direkte Umgebung erhaschen.

Nächster Höhepunkt: der Winterraum der ansonsten schon geschlossenen Boè-Hütte, den wir für eine sturmfreie Pause nutzen. Dann erneute Wegsuche zum Sass Pordoi. Von hier nehmen wir die Seilbahn zum Pordoi-Joch hinunter, was für Marlenes Höhenangst eine größere Herausforderung ist als die Stunden in Wolken, Schnee und Sturm. Aber auch diese meistert sie.

Am Joch suchen wir uns eine Bar für einen Cappuccino und Apfelstrudel und ich rufe unsere nächste geplante Unterkunft an, um uns für den Abend anzumelden. Leider hat die schon am letzten Sonntag geschlossen. Mehrere Alternativversuche mit demselben Ergebnis später steht fest, dass sich unsere Wege hier trennen. Mimi und Marlene finden noch eine Unterkunft bei Campestrin, bevor sie morgen Richtung Eisacktal und nach Hause fahren. Für Leo und mich ist das zu weit abseits unserer geplanten Route. Wie bleiben in einem Hotel am Pordoi-Joch und während die beiden noch abwechselnd schwitzen und frieren, stehen wir bereits unter der Dusche!

Unser Hotel für heute
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Christa Reppel
Christa Reppel
2 Jahre zuvor

So viel Schnee, und ihr mittendrin! Abenteuerliche Wegeverhältnisse und schleierhafte Panoramen! Ihr seid echt herausgefordert und erlebt ein Winter Abenteuer der besonderen Klasse. Das hattet ihr wohl nicht erwartet (Spikes im heimischen Schrank?!). Ich kenne von ungezählten Wanderurlauben im Sommer fast alle Namen der Hütten usw… Aber was ich auf euren herrlichen Fotos sehe, ist mir nur schwer vorstellbar, weil viel zu schwierig für Wandernormalos…. Aber toll abenteuerlich und wunderbar im Warmen zu. lesen…. Macht es gut und genießt diese Extremtour!