Das Ende des vierten Abschnitts

Montag, 18. Juli

Beim Abendessen saß ich mit zwei sehr unterschiedlichen und interessanten Frauen zusammen. Neus (sprich: Nee-uss), eine glühende Katalanin mit einer in die Franco-Ära zurückreichenden tiefsitzenden Verachtung für die Monarchie tat sich mit Englisch etwas schwer, versuchte es der gemeinsamen Unterhaltung zuliebe aber sehr erfolgreich. Wo ihr das Vokabular fehlte, half Domitille, eine zierliche Französin. Sie ist ebenfalls auf der HRP unterwegs und will heute sogar noch über mein heutiges, gut acht Stunden entferntes Tagesziel, die Cabana Sorda hinaus zum Refugi de Juclar weiterlaufen, damit morgen der Abstieg nach Hospitalet-près-l’Andorre nicht so lang wird. Das sind noch einmal zweieinhalb Stunden mehr! Wie Neus erzählte, fühlen sich Katalanen Frankreich mehr verbunden als Spanien. Nicht nur wegen der fehlenden Monarchie, sondern auch, will sich die Sprachen viel näher sind.

Rückblick zum Refugi Sorteny

In der Hoffnung, den vierstündigen Aufstieg bis zum nächsten Pass teils im Schatten absolvieren zu können, bin ich schon vor 7 Uhr unterwegs. Domitille ist noch vor mir los.  Aber der gewohnte Gehrhythmus will sich noch nicht einstellen. Liegt es an der frühen Uhrzeit oder am guten Frühstück in dem Refugi? Oder daran, dass sich zumindest auf dem ersten Wegabschnitt das fast mannshohe Gras immer wieder meinen Stöcken in den Weg schiebt?

Die Sonne kommt raus

Um 8:15 uhr hat dann die Sonne doch gewonnen. Mittlerweile bin ich immerhin in gut 2.400 m Höhe. Das tiefe Gegenlicht der frühen Sonne schafft zauberhafte Stimmungen. Es ist schon perfekt, die Pyrenäen-Überquerung in West-Ost-Richtung zu machen. Der Blick zurück zeigt mir, dass es in die andere Richtung viel langweiliger aussieht.

Eine Viertelstunde später muss sich die Sonne dann doch noch mal mit dem Platz hinter der Kulisse zufrieden geben. Das Gelände steilt sich auf, sodass sie hinter dem Pass verschwindet, den ich um 9 Uhr erreiche: Collada de Meners, 2.713m, benannt nach den „mineros“, die hier nach Erzen schürften, wie ein paar Krater knapp unterhalb des Passes zeigen.

Pause am Collada de Meners

Da der Aufstieg wesentlich schneller ging als gedacht, bin ich auch schon früh an der Cabana Cóms de Jan (2.220m) und entscheide mich, auch den nächsten Aufstieg schon über Mittag durchzuführen. Eigentlich hatte ich hier erst die Mittagshitze abwarten wollen. Aber nach der Erfahrung von gestern ist es nachmittags am heißesten und kühlt auch abends nicht schnell ab.

Estany de Ransol unterhalb des Collada de Meners

Also auf zum nächsten Pass, der Serra de Cabana Sorda (2.661m); aber wie kann man einen Aufstieg nur so scheiß steil anlegen? Die Wegebauer haben sich offenbar an der Grenzneigung orientiert, an der ein gut profilierter Schuh gerade eben nicht wegrutscht. Naja, stimmt nicht: die Wege sind hier ja nicht gebaut, sondern gewachsen. Immerhin bin ich um 13:15 Uhr oben.

Der Estany de Cabana Sorda liegt unter mir

Auf dem Joch sehe ich dann endlich mal wieder einen Gänsegeier. So viele davon ich letztes Jahr auch gesehen habe, dieses Jahr machen sie sich ziemlich rar! Ich mache eine Pause. Leider gibt es keinen Schatten und die Sonne brennt auch in der Höhe wieder ganz ordentlich. So mache ich mich dann doch an den Abstieg zum Refugi de Cabana Sorda, wo ich schon um 3 ankomme. Das lief doch trotz der Anstrengung wesentlich besser als gedacht!

Noch mehr Seen im Abstieg zur Cabana Sorda
Cabana Sorda

Ich koche mir erstmal was. Auf der unbewirtschafteten Hütte sind bereits einige Leute, die „Betten“ sind lediglich rohe Metallgestelle und die Zeltplätze müsste ich mir mit vielen Pferdeäpfeln teilen. Außerdem sind Wolken aufgezogen, die das Gehen viel erträglicher machen. So reift der Gedanke, es doch noch Domitille gleichzutun und noch die zweieinhalb Stunden zum Refugi de Juclar dranzuhängen. Um 4 breche ich auf.

Nachdem es ja erst gemütlich runtergeht ist der letzte Aufstieg des Tages wieder einen Krampf; sowas von steil. Aber ich bin auch froh, dass ich diesen Aufstieg morgen früh nicht mehr machen muss.

Refugi de Juclar

Auf der Hütte ist zwar keine Domitille – wahrscheinlich ist sie, weil es gerade so gut lief, noch weiter gegangen! – aber dafür treffe ich die ersten Deutschen dieser Tour. Und gleich eine ganze Menge. Schnell komme ich in Kontakt mit Stefan aus Dresden und Matthias, dem Leiter des Tourismusverbandes Havelland. Beide kennen sich seit der 1. Klasse und laufen eine neuntägige Runde durch die andorranische Bergwelt. Franziska, ehemalige Eventmanagerin und angehende Schreinerin aus Bonn (!) und Christiane aus Ulm ergänzen unsere „Dinner-Runde“. Es wird ein kurzweiliger Abend. Stefan hat eine Bucketlist von Touren, die er noch gehen möchte und die irgendwie immer länger wird. Ich spendiere ihm noch den Cape-Wrath-Trail und den Carros de Foc im Äiguestortes- Nationalpark, die ich beide selber noch laufen möchte, und nehme mir dafür den Forststeig im Elbsandsteingebirge und eine Bestätigung für die Peaks of the Balkans mit.

Dienstag, 19. Juli

Heute lasse ich es mal gemütlich angehen, es sind ja nur noch sechs Stunden bis Hospitalet-près-l’Andorre. Nach einem Frühstück in trauter Fünferrunde gehe ich um 8:15 Uhr los, anfangs noch gemeinsam mit Christiane und Franziska, die aber bald abbiegen. Die Sonne sagt derweil: „Du kannst es zwar gemütlich angehen lassen, aber ich scheine trotzdem schon mal.“ Zum Glück geht aber auch noch ein kühler Wind im Aufstieg zum Coll del’Albe, den ich um halb zehn erreiche.

Kurz nach dem Start an den Juclar-Seen
Auch noch an den Juclar-Seen

Und wieder einmal: Neuer Pass, neuer See. Jetzt blicke ich auf den Étang Haut de l’Albe. Und wie der Name vermuten lässt, liegt der schon wieder in Frankreich. Hier verlasse ich Andorra also schon wieder. Natürlich nicht ohne vorher mal wieder eine Pause gemacht zu haben.

Am Coll del’Albe
Blick auf den Étang Haut de l’Albe

Die Pause wird mal wieder länger und länger. Es ist unglaublich idyllisch hier. Ich sitze und schaue. Die Sonne glitzert  mit tausenden Funken auf dem See weit unter mir. Nach Osten, Richtung Mittelmeer, verschwindet eine Gebirgskette nach der anderen in abnehmenden Blautönen. Irgendwo rechts von mir pfeift ein Murmeltier, um mich herum summen Schwebfliegen, während Glockenblumen, Gräser, Teufelskrallen und Klee im Wind schaukeln.

Trotz meiner Pause überhole ich im Abstieg bald eine Familie, die bereits kurz hinter dem Pass war, als ich ankam. Die Mutter geht extrem vorsichtig und langsam. Der erwachsene Sohn fragt mich, wie weit es wohl noch bis Hospitalet ist. Ich sage ihm, viereinhalb Stunden, aber sie würden wohl länger brauchen, woraufhin er „apparently“ antwortet. Ich frage mich nur, wie (und von wo) ist die Mutter überhaupt hier hoch gekommen? Dass sie mit dem Gelände völlig überfordert ist, ist offensichtlich.

Am Étang de Couart (schon wieder ein See!) kann ich nicht vorbei gehen, ohne wieder mal eine Pause zu machen. Von hier aus sind es nur noch drei Stunden bis Hospitalet, also echt kein Grund sich zu beeilen und die Schönheit einfach vorbei rauschen zu lassen.

Étang de Couart
Pause!

Dann ist auch diese halbe Stunde wieder vorbei und der Eiertanz auf Blockwerk geht weiter. Denn nichts anderes ist der Weg um den See herum. Von „Weg“ also keine Spur. Je tiefer ich komme, desto häufiger denke ich an diese Familie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es heute noch ins Tal schaffen. Langsam plagt mich das schlechte Gewissen. Hätte ich den Sohn nicht auf die Möglichkeit einer Bergrettung hinweisen sollen? Aber kannte ich da schon den weiteren Wegeverlauf bzw. -qualität? Andererseits machte er einen ganz vernünftigen Eindruck, das sollte er auch selber in Erwägung ziehen können. Ich kann ihnen nur wünschen, dass dieser Tag gut für sie ausgeht!

Nach einem Verhauer (jaja, wenn man so in Gedanken läuft statt auf den Weg zu achten) erfolgt ein kurzer Gegenanstieg auf den Couillade de Pédourès, einen weiten Pass, der auch den Charakter der Landschaft fundamental ändert. Gerade noch war alles wild und eng, jetzt wird es weit und flacher. Das Schöne ist: auch die Wege werden bequemer.

Couillade de Pédourès

Und schon wieder ein See, der Étang de Couart. Kann man sich eigentlich an Seen satt sehen? Einerseits ergötze ich mich immer wieder aufs Neue an ihnen. Andererseits gibt es schon einen gewissen Abnutzungseffekt nach dem Motto „Alles schon mal gesehen“. Oder manchmal auch „Das gab’s auch schon schöner“. Aber überwiegend sind sie doch eine Erfrischung fürs Auge und manchmal auch für die Füße (oder weitere Körperteile).

Étang de Couart, ebenso ein Stausee wie der …
Étang de Pédourès

Je tiefer ich komme, desto heißer wird es wieder. Ich bin froh um jeden Windhauch, der die gefühlte Temperatur kurzzeitig herunterfährt. Ein großer Felsblock bringt schließlich etwas Schatten für eine kurze Pause vor den letzten 300 Höhenmetern nach Hospitalet.

Gîte d’Etappe „l’Hospitalité“ in Hospitalet-près-l’Andorre, meine Unterkunft für zwei Nächte und einen Ruhetag

Tom Martens teilt die HRB übrigens in fünf Abschnitte auf. In Hospitalet habe ich den vierten beendet. Nun bleibt nur noch der letzte Abschnitt, der von hier nach Banyuls, zum Mittelmeer. Der ist allerdings mit knapp 200 Kilometern auch der längste. Aber daran denke ich erst übermorgen – nach meinem Ruhetag.

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Christa Reppel
Christa Reppel
1 Jahr zuvor

Hallo, Thomas, du leistungsstarker Wanderer! Bernd und ich können nur staunen und denken mit einer gewissen Wehmut an die Zeiten, als wir auch noch fit waren. Aber wir trösten uns mit der Weisheit:“ Alles im Leben hat seine Zeit.. “ Und bewundern, wie du die vielen, vielen Auf-und Abstiege bewältigst. Wir genießen es, deine herrlichen Fotos anzusehen, besonders die blauen Augen in der Landschaft – jeder See hat einen besonderen Reiz. Die Ruhepausen an ihrem Rand sind deine kleinen Belohnungen für viel Schweiß. Nun wünsche ich dir weiterhin intensive Tage und möglichst viele Wolken. Heute Morgen hat es hier mal… Weiterlesen »

Andreas+Keller
Andreas+Keller
1 Jahr zuvor

Die Pflanze auf dem zweiten Bild ist eine Orchidee, vermutlich das breitblättrige Knabenkraut. Die Blumen auf dem rechten Bild gehören zur Familie Asteracea (auch Compositae genannt oder „Korbblütler“). Das ist eine Familie mit über 32.000 Arten in mehr als 1.900 Gattungen. Da braucht man Spezialkenntnisse zur Artbestimmung, da muss ich passen. Vielleicht wissen die Einheimischen, was das ist. Was die kleinen Violetten Blumen dazwischen sind, weiß ich auch nicht.
Gruß
Andreas