Nach Tagen mal wieder ein Update, was bedeutet: mal wieder nicht nur einigermaßen Netz, sondern auch WLAN. Was wiederum bedeutet: wir sind in einem Hotel, wo wir eigentlich gar nicht hinwollten.
Aber der Reihe nach:
Mittwoch, 20. 9.
Das Tal zum Futschölpass hinauf gehen wir auf dessen linker Seite, obwohl der Weg ursprünglich auf der rechten Seite verlief. Im Frühjahr dieses Jahres, nur eine Woche vor Beginn der Hüttensaison hat es einen Felssturz vom Fluchthorn gegeben, der die Gipfelhöhe um 20 Meter reduziert und den Weg verschüttet hat.
Und das ist nicht die einzige Stelle hier in der Gegend, an der sich der auftauende Permafrost bemerkbar macht. Auch vom kleinen Piz Buin droht ein Felsabbruch, der ins Tal vor der Chamanna Tuoi, unserem heutigen Tagesziel, stürzen und die Zufahrtsstraße verschütten würde. Die Hütte selbst liegt gerade außerhalb des Gefahrenbereiches, hat aber einen Notfallplan aufgestellt.
Auch was wir bisher an Gletschern gesehen haben, sind hauptsächlich graue Eisplatten mit viel Schutt. Am Jamtal-Gletscher sind 2018 pro Quadratmeter Fläche zwei Kubikmeter Wasser abgeschmolzen. Und da gibt es immer noch Politiker, die nicht erkannt haben, was das dringendste Problem unserer Zeit ist!
Wir erreichen den Futschöl-Pass und damit die Schweizer Seite über eine ziemlich trostlose Schotterlandschaft. Schnell verlassen wir ihn wieder, um aus dem Wind zu kommen. Im Abstieg spüre ich erwartungsgemäß meine Oberschenkel. Immerhin ist der Weg angenehm zu gehen und nicht übermässig steil.
Leo behauptet, er hätte keinen Muskelkater. Angeber! (oder vielleicht doch besser vorbereitet?)
Wie wir tiefer kommen, schimpfen unentwegt die Murmeltiere und warnen vor den Eindringlingen in ihr Reich. Dabei schießen wir höchstens mit Kameras! Ach nein, die warnen ja gar nicht vor uns. Voraus sehen wir auf einmal einen Steinadler, der leider zu plötzlich auftaucht und zu schnell wieder weg ist, um ihm mit der Kamera beizukommen.
Nach einer schönen Passage durch das Val Urschai gehen wir anschließend anstrengend das Val de Urezzas hoch zur Furcletta. Die auch hier vorhandenen und erstaunlich lauffaulen Murmeltiere, die mehr an ihrem Winterspeck als am Flüchten interessiert sind, entschädigen nur bedingt für die Strapazen der steilen Blockfelder im oberen Teil. Oben angekommen, sind wir jedenfalls ganz schön kaputt. Das ändert sich auch im Abstieg nicht.
Gegen 18 Uhr kommen wir, nach fast 10 Stunden, an der Hütte an. Trotz der eingelegten Pausen spricht das nicht für unser Gehtempo. Und die morgige Etappe soll noch länger werden! Das wird nicht funktionieren, wenn wir auch noch Spaß an der Tour haben wollen! Da muss ein neuer Plan her!
Wir beschließen, von Lavin aus mit dem Zug nach Klosters zu fahren und dann Tags drauf, wenn das Wetter eh ziemlich bescheiden sein soll, den Bus zum Berggasthof Vereina, unserem nächsten Ziel, zu nehmen.
Donnerstag, 21.9.
Gestern spät am Abend, mit vollem Bauch (ob’s daran lag?) fiel uns auf, dass es noch eine weitere Option gibt: Wenn wir den „Umweg“ über den Lai Blau einsparen, sind das rund zwei Stunden weniger und damit liegt die geplante Etappe wieder im grünen Bereich! Allerdings werden wir statt der Linard-Hütte die Chamanna Marangun anlaufen, auch eine Selbstversorger-Hütte, von der aus wir am Schlechtwettertag nur über einen 2.700 m hohen Pass müssen statt über zwei, die auch noch höher und Neuschnee-gefährdeter sind.
Guten Mutes ob der Änderung der Planänderung steigen wir ab Richtung Lavin. Das geht zunächst gemütlich über die Fahrstraße, im unteren Teil allerdings im Kuhfladenslalom auf schmalem Weg und über Trittsteinchen durch den Morast. Sonnige Ausblicke ins Engadin und auf das Bergdorf Guarda begleiten unseren Weg.
Im Ort machen wir eine Cappuccino-Pause und bezahlen für zwei Stück Kuchen und zwei Kaffee SFr 25,50! Der Preis würde zu Hause für drei bis vier Personen reichen!
Dann steigen wir zur Chamanna Marangun auf. Unterwegs treffen wir einen Adler, einen Steinbock, ein Wolfspaar und eine Bärenmutter mit Jungem. Zum Glück bewegt sich die Bärin nicht. Wie auch? Sie ist aus Holz und wie die anderen Tiere kunstvolles Ergebnis eines Kettensägenschnitzers.
Forststrasse laufen ist zwar eigentlich so gar nicht mein Ding, aber heute finde ich das gleichmässige Steigen sehr angenehm und muskelschonend.
Gegen 16 Uhr erreichen wir die Hütte. Nachdem wir ein wenig Holz geschlagen, den Ofen angemacht und uns am Brunnen gewaschen haben, steht das Abendessen an. Heute gibt es ein dreigängiges Menü: als Aperitiv Vinschgauer Roggenbrot und ein Whisky aus den Tiefen des Rucksacks, zum Hauptgericht eine exzellente Tütensuppe mit Landjäger-Einlage und als Dessert Schokolade und einen Whisky aus den Tiefen des anderen Rucksacks! 😊
Freitag, 22.9.
Am Morgen steigen wir sehr steil durch Wacholdergestrüpp, Blaubeeren und Alpenrosen Richtung Zadrelljoch. Es regnet schon seit der Nacht mit nur kurzem Unterbrechungen. Natürlich haben wir alles an Regensachen angezogen, was wir dabei haben.
Nach einer kurzen Fotopause, bei der ich die Kamera unter dem Poncho hervorhole und unter dem Kapuzenschirm halbwegs trocken zu halten versuche, geht es im Nebel weiter – ich bin schon neidisch auf all diejenigen, die keine Brille brauchen.
Es ist gut, dass wir auf Gneis unterwegs sind und nicht im Kalk; so bieten die Blockfelder trotz der Nässe genügend Halt, sofern wir darauf achten, nicht auf Flechten zu treten. Also, wie sagt der Rheinländer: et hät och schlimmer kumme könne!
Gemütlicher wird es aber auch nicht. An eine Pause ist in Regen und kaltem Wind nicht zu denken und so laufen wir immer weiter, bis aufs Joch, und dahinter wieder hinunter ohne anzuhalten.
Hatte ich den letzten Beitrag „Aller Anfang ist nass“ überschrieben? Das Wetter sagt uns gerade „da geht noch was!“ In den Schuhen quietscht und schwappt es, aus den Handschuhen läuft das Wasser. Ich laufe an mehreren Motiven vorbei, ohne ein Foto zu machen. Zu umständlich, die nassen Hände aus den nassen Handschuhen zu bekommen, die Kamera aus der nassen Tasche zu holen, ein Foto zu machen, die Kamera wieder in die nasse Tasche zurück zu bugsieren und danach die nassen Hände wieder in die nassen Handschuhe zu manövrieren. Wenn wir nur kurz stehen bleiben, um einen Müsliriegel aus der Hosentasche zu holen, wird uns kalt. Also weiter!
Am frühen Nachmittag sehen wir endlich das Berghaus Vereina, wo wir triefend ankommen. Die nassen Sachen kommen in den Trockenraum und wir unter die heiße Dusche. Himmlisch! Da lernt man solche vermeintlichen Selbstverständlichkeiten wieder richtig zu schätzen!
Diesen Tag müssen wir jedenfalls unter „sportliche Leistung“ buchen, Genuss geht definitiv anders!
Und dann beginnt es, zu schneien.
Samstag, 23.9.
Am Morgen schneit es immer noch. Sieben Zentimeter nasser Schnee zaubern ein nebliges Wintermärchen vor die Fenster. Ursprünglich wollten wir heute auf die Fergenhütte laufen. Die ist an diesem Wochende allerdings ausgebucht. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass bei diesem Wetter tatsächlich alle Vorbucher hinauf gehen, aber auch wir finden das eigentlich gerade nicht so toll. Also gibt es eine weitere Planänderung: wir steigen ab nach Klosters und übernachten dort im Hotel.
Der Wetterbericht prognostiziert für die nächsten Tage Sonne pur und beste Fernsicht, auch wenn es im Moment noch nicht danach aussieht. Aber wenn es so kommt, hätte dieser erzwungene Ruhetag ja auch etwas Gutes!
Nach Klosters sind es rund 12 km auf Fahrstraße. Nicht besonders prickelnd, weshalb ich auch nicht viele Worte darüber verlieren werde. Großartiges Highlight allerdings: die Vereina-Schlucht im oberen Abschnitt, die uns immer wieder beeindruckende Ein- und Tiefblicke erlaubt.
Im Hotel sind wir am frühen Nachmittag und so bleibt Zeit genug, diesen Blog zu aktualisieren, bevor wie unser Abendessen aus Kostengründen statt im Restaurant im Hotelzimmer einnehmen.
Wahnsinn, dass ihr bei diesem Wetter noch immer in die Kamera lachen könnt!
Und Wahnsinn auch, dass die Berghütten inzwischen schon Panzerglas benötigen 🙁
Ja, die Berge waren zwar immer schon in Bewegung, aber dank uns Menschen geht heute alles viel schneller!
Oh je, ihr seid ja echte Helden, weil ihr trotz diverser nicht unerheblicher Widrigkeiten bei gleichzeitig kreativer Flexibilitåt immer weiter wandert und die Umstände immer wieder mit Humor hinnehmt. Diesmal schlägt der Wetterteufel ja echt zu, und er setzt mit dem Nassschnee noch einen drauf. Da bleibt mir nur, euch beiden die Regen-Tapferkeitsmedaille zu verleihen. Bitte in Plastikhülle verpacken, damit sie nicht aufweicht!!!