Ankunft

Freitag, 29. Juli

Beim Rückblick auf die Autobahn fällt mir auf, dass sich hier nicht nur physisch, sondern auch symbolisch zwei Wege kreuzen. Dort die Schlagader für den Personen- und Güterverkehr von Frankreich nach Spanien und von Spanien nach Frankreich. Dort sind diejenigen unterwegs, die schnell von einem Ort zu einem anderen wollen und für die die Berge eher ein Hindernis auf ihrem Weg sind. Hier läuft jemand, der die Ankunft am Ziel eher verzögern als beschleunigen will. Für den der Weg das Ziel ist. Und für den die Berge nicht Hindernis, sondern Erlebnis, Abenteuer, vielleicht auch Selbstfindung bedeuten.

Lange noch begleitet mich der Lärm der Autobahn und die Gedanken über das Leben, das wir führen und wie wir es führen. Bis mich wieder die Ruhe umfängt, die ich an den Bergen so liebe. Nichts, das mich vom Sein ablenkt. Kein Straßenlärm, keine Musikbeschallung, keine Gruppen  laut und mitunter dumm schwätzender Menschen, die sich über die neuesten Netflix-Serien oder die Erlebnisse vermeintlicher Promis austauschen, in denen sie vergebens ihre eigenen suchen.

Auf halbem Weg zum Col de l’Ouillat treffe ich Marc wieder und wir laufen gemeinsam zum Col und dem dortigen Gîte, wo er heute übernachtet. Auch für mich sind es nur noch eineinhalb Stunden bis zum Refuge de la Tagnarède, einer unbewirtschafteten Hütte, an der ich mein Zelt ein letztes Mal abseits der Zivilisation aufstellen will. Wir trinken einen Kaffee, unterhalten uns, trinken noch einen und ich komme nicht weg, weil – abgesehen davon, dass ich mehr als genug Zeit habe – die ganze Zeit Pink Floyd im Hintergrund läuft, Musik, die ich zu Hause gerne ohne jede Ablenkung höre. Wir, die wir annähernd derselbe Jahrgang sind, sind uns einig, dass das mit das Beste ist, das die Pop-Musik je hervorgebracht hat.

Pic Neuloss

Schließlich gehe ich doch. Der letzte Anstieg der Tour führt mich auf den Pic Neulos (1.256m). Nur ein paar kleinere Graterhebungen liegen dann noch zwischen mir und Banyuls-sur-mer. Auf dem Weg zum Gipfel sehe ich, wie von Frankreich her dicke graue Wolken aufziehen. Auch der Wind kommt aus der Richtung. Ich suche auf dem stark überbauten Gipfel nach einem Unterstand, aber alle Gebäude sind hochsicherheitsmäßig eingezäunt. Lediglich auf der Rückseite eines kleinen Betonbaus finde ich eine Möglichkeit, mich mit meinem Regenponcho einigermaßen wettergeschützt hin zu kauern. Aber der Regen zieht vorbei und die Sonne kommt wieder hervor. Macht nichts. Eine Pause wollte ich ohnehin wieder machen. Wie gesagt, Zeit habe ich heute mehr als genug.

Regen zieht auf

Ich steige ab zur Source de Tagnarède, der vermutlich letzten Wasserstelle vor Banyuls und fülle meine Flaschen und den 2,5l-Sack. Eventuell komme ich heute Abend noch einmal zum Nachfüllen hierher, die Hütte ist keine zehn Minuten weit entfernt.

An der Refuge de la Tagnarède, einer einfachen und etwas verwahrlosten Hütte. Da ist es im Zelt schon schöner!
Abends ein paar Meter hinter meinem Zelt. Morgen bin ich irgendwo da unten am Meer!

Samstag, 30. Juli

Die Nacht war, wie vorhergesagt, stürmisch, aber mit 15 Grad nicht übermäßig kalt. Zudem haben die knorrigen Buchengruppen, zwischen denen mein Zelt stand, einen Teil des Sturms abgehalten. Laut war es dennoch.

Mein Wecker geht um 5 Uhr, weil ich vor dem Abmarsch noch Fotos vom Sonnenaufgang machen will. Daraus wird dann leider doch nichts. Es ist bewölkt. Aber so komme ich bereits um kurz vor halb sieben los. Und tolle Lichtstimmungen gibt es dennoch.

Noch 18 km bis ans Ziel meiner Reise. Noch sieben Stunden. Noch 600 m Auf- und 1.500 m Abstieg. Keine Wasserstelle mehr. Ich habe 3,5 l Wasser mit. Also einen halben Liter pro Stunde. Das kann man gut überprüfen. Und das sollte reichen, selbst wenn es nochmal sehr heiß werden sollte. Und der Wetterbericht hat für Banyuls morgen nochmal 30 Grad vorhergesagt. Aber das passt schon!

Den ganzen Morgen tobt der Sturm und zerrt an mir, da ich die letzten Kilometer auf dem einzigen Höhenrücken verbringe, der sich standhaft bis zum Mittelmeer behauptet. Es ist, als wollten mir die Pyrenäen zum Abschied noch sagen: „Wanderer, sei dankbar, dass du so gut durchgekommen bist. Wir können auch anders!“ Ich weiß, dass ihr auch anders könnt. Und ich bin dankbar. Trotzdem kann ich nicht verhehlen, dass sich seit dem Morgen ein Grinsen in meinem Gesicht festgesetzt hat, das immer breiter wird, je näher ich Banyuls komme.

Banyuls-sur-mer

Kurz vor Banyuls holt mich Alan ein, ein Franzose, dem ich am Vormittag bereits begegnet war, und wir laufen die letzte halbe Stunde gemeinsam bis ans Meer. Während er den offiziellen Start/Endpunkt des GR10 aufsuchen will, gehe ich an den Strand, mache zur Freude aller Badegäste, die mich begeistert anfeuern, ein paar Selfies, werfe dann (fast) alles von mir und tauche ins Ziel meines Weges ein. Als die Wellen über meinem Kopf zusammenschlagen und ich in die kühlenden Fluten des Mittelmeers eintauche, ist alle Anstrengung der letzten Wochen vergessen.

Am Ziel meiner Reise

40 Jahre, nachdem ich die Pyrenäen erstmals (und bis 2021 auch letztmals) gesehen habe und 40 Jahre, nachdem sich die Idee, diese Gebirgskette zu Fuß von einem Ende zum anderen hin zu überschreiten, in meinem Kopf festgesetzt hat, habe ich es geschafft! Rund 750 km Strecke und 60.000 Höhenmeter liegen hinter oder unter mir. Ich bin zufrieden, ich bin glücklich und ja, ich bin auch ein bisschen stolz!

Vielen Dank allen, die an das Vorhaben geglaubt haben und daran, dass ich es schaffen kann (auch wenn ich selber Phasen hatte, in denen ich da nicht so sicher war). Vielen Dank insbesondere an Uta, die mich, obwohl es ihr schwer fiel (ich weiß), nicht nur ziehen ließ, sondern mich auch jederzeit in meinen Vorhaben unterstützte! Ich liebe Dich!

1982 auf dem Monte Perdido (3.355m)
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Viktor
1 Jahr zuvor

Was soll ich nun sagen: Herzlichen Glückwunsch – du hast es geschafft und kannst mit Recht „ein bisschen Stolz“ empfinden.

So, so now you think you can tell
Heaven from hell!
Blue skies from pain!
You can tell a green field
From a cold steel rail!
A smile from a veil!
Now you think you can tell!