Eine Erkenntnis und noch mehr Seen

Freitag, 8. Juli

Der Sturm hält die ganze Nacht hindurch an. Mal knattern Fallwinde vom Aneto herunter, mal rauschen Böen von der Seite heran und lassen das Zelt beben und dann – nach einem kurzen Moment scheinbarer Ruhe – heult es vom Tal hoch und lässt die Zeltwände flattern und knallen. Bis zum Morgen hat sich nichts geändert; doch: es ist kälter geworden.

Um 6 Uhr und in der Erkenntnis, dass es nicht mehr besser wird, schäle ich mich aus den warmen Daunen, die ich eigentlich gar nicht verlassen will. Ich packe den Rucksack so schnell es geht. An Frühstück ist gar nicht zu denken. Das Rucksack-Thermometer zeigt im Zelt 6° an. Durch den Windchill ist es draußen gefühlt allerdings viel kälter. Das Zelt stopfe ich als letztes einfach nur noch obenauf in den Rucksack. Ich steige mit fast allem an Klamotten am Leib, was ich habe, vorsichtig wieder bergab. Ich bin unglaublich müde und gehe deshalb noch vorsichtiger als sonst.

Nachdem der Sturm das Zelt nicht klein gekriegt hat, versucht er jetzt offenbar, mich umzuwerfen. Ich gehe breitbeinig und torkele trotzdem durch die Gegend als hätte ich mindestens zwei Promille.

Aber ein Hoch auf mein tapferes kleines Ultraleicht-Zelt, das in diesen wenigen Tagen schon so viel aushalten musste! Ein Kuppelzelt hätte diese Nacht nicht überstanden!

Gelockert, aber nicht gelöst: Ein Häring am nächsten Morgen.

Um 8:45 Uhr bin ich endlich wieder am GR11 angekommen. In der Zwischenzeit kommen mir acht Leute entgegen, die auf den Aneto wollen. Sollen sie. Ich suche mir eine sonnige Lichtung im Kiefernwald, hole mir Wasser aus dem Fluss, das ich sicherheitshalber filtere, koche einen Tee, esse ein wenig Brot und Käse und lege mich dann erstmal hin. Um 10:15 uhr bin ich dann wieder soweit ausgeruht, dass ich mich wasche und dann meinen Rucksack ausschütte und neu packe. Eine Stunde später bin ich endlich soweit, dass es weitergehen kann.

Nach nicht einmal zwei Stunden mache ich wieder eine Pause an den Ibones de Balibierma. Die Füße freuen sich über die Abkühlung, aber bald schon vertreibt mich der kühle Wind von meinem sonnigen Plätzchen.

Ibones de Balibierma

Mir fällt das Gehen heute schwer. Die letzte Nacht steckt mir in den Knochen. Und obwohl ich eigentlich das Gefühl habe, genug zu essen, habe ich wahrscheinlich auch noch ein permanentes Kaloriendefizit.
Allerdings ist auch mein Süßkram nahezu aus! Schokolade eignet sich leider nicht für diese Temperaturen. Aber vermutlich muss ich da nochmal nachjustieren.

Das Refugio Cap de Lloset ist schon in Sicht

Heute übernachte ich auf dem Refugio Cap de Llauset. Es ist zwar erst früher Nachmittag, als ich dort bin, aber es ist einfach zu einladend. Und ich nehme alles an Kalorien mit, was ich kriegen kann: Abendessen, Frühstück, ein Lunchpaket für den morgigen Tag und heute nach der Dusche erstmal einen Cheesecake. Danach lege ich mich für eine Stunde hin.

Vielleicht sollte ich die Sonderschleifen lassen. Also keine Äiguestortes mehr, ich hatte ja auch schon keinen Perdido und keinen Aneto. Dafür einfach nur „Ankommen“ als Ziel ausrufen! Zunächst mal plane ich für Salardú einen vollständigen Ruhetag. Da sollte ich in zwei Tagen sein, wenn ich auf die Äiguestortes verzichte.

Samstag, 9. Juli

Auf dem ersten Pass des Tages bin schon in der Sonne. Bis auf einzelne Vögel ist es absolut still. Ich bin nur 20 Minuten von der Hütte entfernt und ganz alleine hier oben in 2.650 m Höhe. Alleine mit mir selbst und den Bergen. Ein unbeschreibliches Gefühl. Wie ich weitergehe, läuft ein Murmeltier vor mir davon. Ohne große Eile, ohne Hast und ohne Pfeifen. Es scheint sich nicht sehr zu fürchten.

Auf dem ersten Pass des Tages, dem Collada de los Ibones

Ohne Wind knallt die Sonne auch am frühen Morgen schon ganz ordentlich. Ich bin froh, dass ich jetzt bergab gehe und nicht bergauf. Das mit dem Wetterbericht und keine 30 Grad ist ja schön und gut, aber das gilt natürlich für den Schatten. In der Sonne fühlt sich das schon anders an.

Vor mir liegen wie an einer Schnur aufgereiht mehrere kleine Seen, die meinen Weiterweg markieren. Es ist unglaublich schön hier. So sehr ich die Stille und Einsamkeit hier oben auch genieße, gerade jetzt bedaure ich es doch, die Großartigkeit dieses Momentes mit niemandem teilen zu können.

Zur Ehrenrettung des GR11, den ich ja schon wegen seiner Schotterstraßen beschimpft habe, sei gesagt: auch das hier ist GR11!

Der anschließende Abstieg durch einen Kiefernwald ist wieder unangenehm geröllig und verblockt. Der Weg ähnelt eher einem ausgetrockneten Bachbett, sodass ich kaum drei Schritte am Stück gehen kann, ohne in der Vorwärtsbewegung wieder absetzen zu müssen, weil ich Augen und Füße neu sortieren muss. Im unteren Teil des Barranco de Besiberri verläuft der Weg dagegen wieder gut gehbar immer nahe am Fluss mit seinen vielen kleinen Wasserfällen entlang.

Begegnung auf dem Abstieg; offenbar orientiert sich die Kröte auch an der weiß-roten Markierung

Auf dem 50-minütigen Weg, der parallel zur D230 nach Hospital de Viella führt, treffe ich Daniel, der auf diesem Waldweg gerade einen Platten am seinem Rad flickt. Er ist seit acht Jahren mit dem Bike in der Welt unterwegs. Momentan ist er mal wieder auf Besuch bei seiner Freundin in Barcelona (zumindest, wem er nicht gerade in den Pyrenäen unterwegs ist 😊). Sie arbeitet saisonal und ist sonst oft mit ihm gemeinsam unterwegs. Natürlich sitzt auch er nicht nur auf dem Rad, sondern arbeitet immer wieder mal, um Geld zu verdienen, solange, bis es für weitere Radreisen reicht. Ich mag diese zufälligen Begegnungen mit fremden, interessanten Menschen! Seinen Blog findet ihr unter https://www.vivirenbicicleta.com/ , außerdem natürlich bei Facebook, Instagram…, was man halt heute so macht 🙂

Daniel

Nach einer langen Siesta beginne ich meinen Anstieg zum Port de Rius, hinter dem mich weitere Seen erwarten, insbesondere der traumhaft schöne Lac de Rius. Trotz der späten Zeit (es muss irgendwas zwischen sieben und acht Uhr abends sein) kommen mir noch mehrere Wanderer entgegen, die offenbar auch einen Bogen um die Mittagshitze gemacht haben.

Rückblick zum Tal, durch das ich am Morgen abgestiegen bin
Lac de Rius
Lac de Rius

Unterhalb des Lac de Rius finde ich einen weitläufigen Biwakplatz, den auch schon drei Spanier nutzen. Eine Quelle ist auch ganz in der Nähe. Dem Abendessen und einem ruhigen Tagesausklang steht also nichts entgegen.

Sonntag, 10. Juli

Morgenstimmung am Biwakplatz

Heute Abend will ich in Salardú sein, morgen mal nicht weiterwandern, sondern meine Vorräte auffüllen und überflüssiges Gepäck nach Hause schicken (ja, vor Ort kann man dann offenbar doch nochmal optimieren!)
Zuvor soll es aber noch eine landschaftlich schöne Etappe zumindest am Rand des Äiguestortes-Nationalparks entlang geben.

Nach einer ruhigen Nacht inkl. Morgensonne an meinem Biwakplatz starte ich talabwärts, wähle dann eine Abkürzung, mit der ich einen zusätzlichen Hüttenanstieg umgehen will und finde mich unversehens an einem Parkplatz wieder, an dem ich meine Karte nochmal studiere.

Das hätte ich besser vorher getan, und zwar genauer. Tatsächlich war die Hüttenumgehung erst einige Kilometer später geplant. Nun müsste ich wieder eine Stunde aufsteigen, um auf meine geplante Route zu kommen. Und ab dort wären es dann nochmal 7 Stunden reine Gehzeit bis Salardú. Da wäre ich ja kaum vor 19/20 Uhr dort! Ehrlich gesagt, habe ich dazu keine Lust. Zu sehr habe ich bereits den Ruhetag vor Augen, als dass mich selbst ein eindeutiger Fehler meinerseits dazu führen könnte, diese Zusatzanstrengung in Kauf zu nehmen. Also setze ich den eingeschlagenen Weg konsequent fort und steige bereits ein Tal früher als geplant nach Salardú ab, wo ich keine drei Stunden später in der Mittagshitze ankomme.

Der Nachmittag ist mit Duschen, Wäsche waschen und Blog schreiben mehr als ausgefüllt.

Schnelltrocknung der (hand)gewaschenen Wäsche unter spanischer Sonne

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Anna
Anna
1 Jahr zuvor

Ich sollte deinen Blog vielleicht nicht vor dem Frühstück lesen – da stand überall Äigues-Torte…
Aber im Ernst: die Bilder sind unheimlich schön. Hoffentlich überwiegen die „Und-dafür-mache-ich-das“-Momente die anderen.

Viktor
1 Jahr zuvor

Wenn die Herzform des „Ibones de Balibierma“ erst einmal Instagram erreicht hat, wird er bestimmt in ein, zwei Jahren zum Selfie-Hotspot. Hoffen wir mal, dass es nicht dazu kommt…

Christa Reppel
Christa Reppel
1 Jahr zuvor

Hallo, Thomas, anstrengend und herausfordernd, diese beiden Worte kennzeichnen meinen Eindruck von deinen letzten Tagen… Und schön natürlich… Das letzte hart erarbeitet! Toll, dass der starke Sturm deinem. Zelt nichts anhaben konnte, erstaunlich sogar. Bloß: was kannst du nach Hause schicken von den wenigen mitgeführten Sachen? Ein Rätsel. Hast du bemerkt, dass einer der ersten Seen ein Herz bildet? Wunderschön! Danke dir für die superguten Fotos und die anschaulichen Beschreibungen. Macht echt Spaß, auf diese Weise teilzunehmen. 🙏!